02.10.2015: Gastbeitrag von Rudolf Seiters: Gemeinsam geht fast alles
Zusammenfinden aus unterschiedlichen Lebenswelten – kann das klappen? Die Deutschen in Ost und West haben es vorgemacht, meint DRK-Präsident Rudolf Seiters. Und sie haben gemeinsam beschlossen, Menschen in größter Not Schutz vor Verfolgung zu bieten. 25 Jahre Einheit – ein Lehrstück für die Herausforderungen von heute?
Am 3. Juli 1992 habe ich in einem Vortrag an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena gesagt: „Nach Vollendung der staatlichen Einheit stehen wir jetzt vor der historischen Aufgabe, einheitliche rechtliche, wirtschaftliche, soziale und ökologische Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu schaffen. Dies ist nicht nur eine wirtschafts- und finanzpolitische Herausforderung, sondern vielleicht mehr noch eine geistige und kulturelle, in Deutschland zwei gegensätzliche Gesellschaftsordnungen zu vereinen, die nicht nur durch einen unterschiedlichen Lebensstandard, sondern über viele Jahrzehnte hinweg durch ein unterschiedliches gesellschaftspolitisches Bewusstsein geprägt waren.“
Ich habe mich damals auch erinnert an die Frage, die mir Papst Johannes Paul II. 1990 bei einer Privataudienz stellte – mit tiefer Nachdenklichkeit. „Wie werden die Menschen nach den Jahrzehnten der Diktatur fertig mit der so plötzlich errungenen Freiheit?“
"Wie werden die Menschen nach den Jahrzehnten der Diktatur fertig mit der so plötzlich errungenen Freiheit?“, fragte Papst Johannes Paul II. 1990.
Problemlos war der Weg nicht, aber wir sind ihn gemeinsam und mit Respekt vor unterschiedlichen Lebensläufen gegangen. Aus der Kommandowirtschaft wurde eine Marktwirtschaft, die Menschen konnten oder mussten eigene Verantwortung übernehmen. Betriebe waren nicht mehr lebensfähig, Arbeitsplätze fielen weg. Aber dieser Prozess wurde abgefedert durch eine sozialverträgliche Umstellung der Ostmark auf die D-Mark, und man sah den Wandel in den Geschäften, die Reisefreiheit, die Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur. Das Wichtigste aber war die Freude über das Wunder der Wiedervereinigung – eine damals wichtige Motivation.
Heute stellen wir fest, Ost und West sind in einer guten Weise zusammengewachsen. In den letzten Jahren gingen 5,5 Millionen Menschen von Ost nach West, gleichzeitig jedoch 4,4 Millionen von West nach Ost, das heißt, es gibt viele, die eine neue Heimat gefunden haben – nicht nur Ostdeutsche im Westen, sondern ebenso andersherum. Mich persönlich stimmt zudem optimistisch, was eine Umfrage unter 18- bis 25-Jährigen ergeben hat, als sie gefragt wurden, inwieweit sie sich als Westdeutsche oder Ostdeutsche fühlten: 91 Prozent sagten, sie fühlten sich einfach als Deutsche.
Asyl für Verfolgte uneingeschränkt sichern
Heute stehen wir in Deutschland und Europa erneut vor einer großen Herausforderung. Flüchtlinge streben in unbekanntem Ausmaß nach Europa und besonders in unser Land, politisch Verfolgte, Menschen in Lebensgefahr durch Krieg und Bürgerkrieg. Und auch viele Menschen, Armutsflüchtlinge genannt, die bei uns für sich und ihre Familie eine bessere Zukunft erhoffen. 1992, als 440.000 Zufluchtsuchende nach Deutschland kamen, konnten wir dieses Problem lösen, in Gemeinsamkeit von Bund, Ländern, Kommunen, Wirtschaft, Gewerkschaften und humanitären Organisationen. Unsere Antwort bestand damals in der Grundgesetzänderung und dem Asylkompromiss von 1993. Unser Ziel war es, das Grundrecht auf Asyl für politisch und religiös Verfolgte uneingeschränkt zu sichern, den Zuzug von nicht Asylberechtigten zu begrenzen, die Verfahren zu beschleunigen und die Integration derer nachhaltig zu verbessern, die auf Dauer bei uns blieben.
Daraus können wir heute lernen. Das Bild, das Europa derzeit gegenüber der Not und dem Elend vieler Flüchtlinge abgibt, ist allerdings leider nicht das Bild einer solidarischen Wertegemeinschaft. Dabei hat Europa in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht: Wir haben erkannt, dass die Nationalstaaten – jeder für sich – viele Probleme nicht lösen können. Sich heute darauf zu besinnen ist angesichts der vielen nationalen Egoismen gegenüber der Flüchtlingsfrage von größter Bedeutung.
„Wir brauchen europäische Solidarität“
Wir brauchen europäische Solidarität mit den überforderten Schengen-Grenzstaaten und bei der Verteilung der Flüchtlinge. Wir müssen die Unterscheidung treffen zwischen Menschen, die aus sicheren Drittstaaten kommen, und denen, die politisch verfolgt sind oder in Lebensgefahr. Wir brauchen dringend menschenwürdige Unterkünfte und später – wieder als gemeinsame Anstrengung von Staat und Zivilgesellschaft – Hilfe bei der Integration in Schule, Ausbildung und Beruf. Wir brauchen die Betreuung für traumatisierte Kinder und unbegleitete minderjährige Jugendliche. Dabei gilt allerdings auch hier das Wort vom Fördern und Fordern. Wer hier in Deutschland eine Zukunft haben will, muss die Sprache lernen und unsere Rechtsordnung respektieren. Niemand verlangt, das eigene kulturelle Erbe aufzugeben, aber Achtung vor dem Grundgesetz müssen wir von jedem Flüchtling fordern.
Ein besonders hohes Gut, das sich in Deutschland herausgebildet hat, ist das bürgerschaftliche Engagement. Wir könnten heute die Unterbringung und Betreuung der vielen Flüchtlinge nicht gewährleisten ohne die Millionen Menschen, die sich ehrenamtlich, organisiert oder als ungebundene Helfer, einsetzen.